Leben mit der Krankheit

Eine Gruppe Rollstuhlfahrer machte sich im Rahmen der „Aktionswoche Selbsthilfe“ auf den Weg durch die Nordoer Heide

Geht alles auch mit dem Rollstuhl: Herbert Heinlein (m.) auf Tour mit Jutta Hassen (l.) und Monika Brockelmann (r.) (Foto: Grützmacher)

„Ich lebe nicht für die Krankheit, sondern mit der Krankheit“, sagt Jutta Sötje während sie mit ihrem Rollstuhl auf einem der Wege durch die Nordoer Heide fährt. Mit „der Krankheit“ meint sie Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) – eine unheilbare Krankheit, die die Bewegungsnerven im Gehirn und im Rückenmark schädigt. Fast die Hälfte aller Patienten, die an ALS erkranken, sterben innerhalb der ersten drei Jahre. Jutta Sötje lebt schon seit 2005 mit der Diagnose ALS – sie hat eine langsam verlaufende Form der Krankheit. „Erstmal hat man natürlich einen Schock“, sagt sie über damals. „Aber mein Mann sagte mir, wir hätten auch beide vom Bus überfahren werden können.“

Sötje wollte sich nicht unterkriegen lassen, holte sich einen kleinen Hund und ging fortan jeden Tag raus. Zu Hause kann sie sich auch mit Rollator bewegen – denn ALS bedeutet nicht automatisch, dass man durchgängig im Rollstuhl sitzen muss. Ihren Wohnort Kremperheide findet Sötje gut geeignet für Rollstuhlfahrer. Sie könne mit dem Gerät viele Wege gut entlangfahren und ihrem Hobby, dem Fotografieren, nachgehen. Die Wege in Kremperheide sind sogar so gut geeignet, dass eine sieben Kilometer lange Tour mit dem Rollstuhl quer durch die Nordoer Heide möglich ist. Zu eben so einer Tour lud am Dienstag die ALS-Gruppe des Itzehoer Kibis-Selbsthilfetreffs ein, organisiert von den Leiterinnen Brigitta Diederich-Marx und Hanne Nuijen-Bodenstein. „Hier entsteht mehr Lebensmut in der Gruppe“, ist Nuijen-Bodenstein überzeugt.

Zehn Rollstuhlfahrer stehen am Nachmittag am Heidehaus in Kremperheide bereit. Auch zwei Mitarbeiter eines Unternehmens, das Hilfsmittel für gehandicapte Menschen vermittelt, sind dabei. Sie verleihen ein paar Rollstühle für die Tour durch die Heide und nutzen die Zeit, um selbst zwei Geräte auf den Wegen zu testen. „Wir nehmen die einigermaßen gute Wege, da können Panzer fahren, dann kriegt ihr das auch hin“, sagt nicht ganz ernst gemeint der Leiter der Tour, der stellvertretende Bürgermeister von Kremperheide, Hans Mölln. Probleme gibt es mit den Rollstühlen in der Nordoer Heide tatsächlich nicht. Selbst mit deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit können die Teilnehmer durch die Natur fahren.

Gegründet hat die ALS-Selbsthilfegruppe vor elf Jahren Herbert Heinlein. Er selbst leidet nicht an der Krankheit, wie er vor der Tour erzählt, sondern an Muskelatrophie, also Muskelschwund. „Auch ich kann noch ein bisschen laufen“, sagt er. Kurze Distanzen zurücklegen schaffe er ohne Rollstuhl, längere Strecken wie die sieben Kilometer durch die Nordoer Heide hingegen nicht. Auch Treppenlaufen ist zu Hause nicht mehr möglich, dafür nutzt Heinlein seinen Treppenlift. Als er seinen Rollstuhl vor vielen Jahren bekam, habe dieser erstmal drei Monate nur in der Garage herumgestanden. „Ich habe ihn nur angeguckt“, sagt Heinlein. Ebenso wie Sötje wollte er jedoch weiter raus, normal am Leben teilhaben. „Wir wollen in die Natur, damit die Leute mal was sehen und merken, sie können raus und müssen nicht drinnen sitzen“, sagt Heinlein.

Wer an ALS oder auch Muskelatrophie erkrankt, kann wegen der eingeschränkten Mobilität Gefahr laufen, zu vereinsamen. Selbsthilfegruppen wirken dem entgegen. 20 bis 25 Menschen treffen sich laut Heinlein jeden dritten Dienstag im Monat um 16 Uhr im Kreisgesundheitsamt in der Viktoriastr. 17 in Itzehoe, um sich gegenseitig zu helfen und über das Leben mit der Krankheit und Therapiemöglichkeiten zu informieren. Sogar aus Hamburg-Schnelsen kommen Menschen angereist. Außerdem zählen auch Hinterbliebene von Verstorbenen zu den Besuchern, um anderen mit dem Erlebten zu helfen und selbst weiter zu verarbeiten.
(Robin Grützmacher)

(Quelle: Norddeutsche Rundschau 23.5.2019)